ROLAND JANES 1933-2013
von Colin Escott
Janes-Roland-at-Sonic-StudiManchmal kamen Musiker zum Phillips Recording Studio in Memphis weil sie wussten, dass Toningenieur Roland Janes einst eine große Nummer unter Gitarristen war. Sie reichten ihm eine Gitarre und sagten: “Ich möchte Dich spielen hören”. Roland gab in einer solchen Situation die Gitarre zurück und sagte: “Du hast mich schon spielen gehört!” Fast jeder hatte schon mal Roland Janes gehört, wenn nicht das Solo von Whole Lotta Shakin’ oder High School Confidential, dann die Bridge bei Raunchy oder die unbeschreiblich abgefahrenen Soli bei Flying Saucer Rock and Roll. Nicht vergessen werde sollte, dass er Harold Dormans Mountain Of Love produziert hat, dort auch Gitarre spielt und diesen Song auf einem Label veröffentlichte, das ihm zur Hälfte gehörte. Ausserdem produzierte er Scratchy von Travis Wammack, I’m Moving On von Matt Lucas und My Girl Josephine von Jerry Jaye – einige der besten Aufnahmen aus Memphis in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre.
Irgendwann in den Achtzigerjahren ging ich ins Phillips Recording Studio auf der Madison Avenue in Memphis. Ich wusste, dass Roland nach zwanzig Jahren dort wieder angefangen hatte und dass niemand zuvor mit ihm ein Interview geführt hatte. Martin Hawkins und ich hatten ihn 1971 in seinem Haus angerufen und bekamen zu hören, dass er keine Lust hatte, mit uns zu reden. Also ging ich in diesen kleinen Aufnahmeraum auf der anderen Seite des Studios. Einige Typen sassen um einen Tisch, aßen und rauchten. Ich fragte, “Ist Roland Janes hier?” Einer, der mit dem Rücken zu mir saß, erwiderte: “Tut mir leid, Roland ist schon gegangen.” Später erfuhr ich, dass dies Roland Janes gewesen war.

Gegen Ende der Woche begannen wir eine sporadische, dreißig Jahre währende Konversation. Wenn er Lust zum Reden hatte, dann gab es keine bessere Quelle für die Musikgeschichte in Memphis oder verschrobene Lebensweisheiten im Allgemeinen.
Roland Janes war keiner jener Musiker, die die Welt durch eine Ego-Brille betrachteten. Er war vielmehr über die Maßen bescheiden und besaß  den trockensten Humor von allen im Memphis. Seine letzten  Weihnachtskarten an mich enthielten eine selbst geschriebene Kurzgeschichte. Einmal fragte er mich, wie er wohl seine Literatur veröffentlichen könnte. Ich erklärte, er müsse dann wohl auf Lesereise gehen, um sein Werk vorzustellen. Ich glaube, danach war diese Idee gestorben. Jahrzehntelang lebte er unter derselben Adresse zusammen mit der Frau, die er 1959 geheiratet hatte. Soviel ich weiß, ist er jahrelang nicht aus Memphis herausgekommen.
Roland Janes wurde am 20. August 1933 in Brookings, Arkansas, als zweitjüngstes von sieben Kindern geboren. Sein Vater war Waldarbeiter. Während der Großen Depression war die Familie ununterbrochen auf Wanderschaft. Als Roland zehn Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Seine Mutter zog nach St. Louis und nahm die Kinder mit. Mit zehn Jahren lernte Roland, Mandoline zu spielen. Doch als er 1953 in die Marine eintrat, spielte er bereits Gitarre. Kurz zuvor war er nach Memphis gezogen, und hierhin kehrte er nach Beendigung seiner Dienstzeit 1956 zurück. Das GI Gesetz von Roosevelt zur Wiedereingliederung von Armeemitgliedern erlaubte ihm, eine Schule zu besuchen. Gelegentlich arbeitete er in einer Wäscherei und noch seltener in einer Farbenfabrik, bevor er sich endgültig für die Musik entschied.
Doc McQueen, ein Pianist mit eigenem Demostudio und eigener Band im Hideaway, war auf der Suche nach einem Gitarristen. Roland bewarb sich und bekam den Job. Durch McQueen lernte er den Steelgitarristen Kenneth Herman kennen, der ihn wiederum  Jack Clement vorstellte. In jenen Tagen plante Clement zusammen mit dem Lastwagenfahrer Slim Wallace aus dessen Garage heraus die Plattenfirma Fernwood Records zu gründen. Als ersten Musiker nahmen sie Billy Riley unter Vertrag. Clement brachte die Bänder zum Mastern zu Sam Phillips in dessen Sun Studios. Phillips war angetan von dem, was er hörte. So führten Rileys erste Aufnahmen dazu, dass Clement einen Job als Toningenieur in den Sun Studios bekam, dass Riley einen Plattenvertrag erhielt und dass Rileys Band ab jetzt bei vielen Sun-Sessions beschäftigt wurde.
Im Dezember 1956 suchten Riley und Phillips Songs für Rileys zweite Single. Roland erinnerte sich, dass er ein paar Demoaufnahmen von einem lokalen Musiker namens Ray Scott gehört hatte. Einer dieser Songs, Flying Saucer Rock ‚n’ Roll, war ein Produkt der damals um sich greifenden Begeisterung für alles Außerirdische. Er wurde zum Synonym für Rockabilly in seiner ganzen wilden tutti-frutti Verrücktheit. Vieles machte diesen Song überaus liebenswert. Da war zunächst Rolands abgefahrenes Intro, dann seine durchgeknallten Soli und schließlich der Klavierakkord aus der Twilight Zone am Ende. Als die Aufnahme herauskam, kleidete Riley seine Band in Billardtisch-farbene Filzstoffe und ging auf der Suche nach seinem persönlichen Hit auf Tournee.
Die B-Seite sollte keineswegs überhört werden. Bei I Want You Baby spielt Roland seinen Zwei-Saiten-Stil. “Damals spielten die meisten Gitarristen auf einer Saite,” erzählte er. “Wir wollten etwas anderes machen, was weder Country noch Blues war. Wir fragten uns, was wir tun könnten, um uns von den anderen zu unterscheiden.” In ihrer neuen Rolle als Sessionmusiker spielten Roland und Billy Rileys minderjähriger Schlagzeuger J.M. Van Eaton auf der Demosession von Jerry Lee Lewis. Vom ersten Moment an stimmte die Chemie. Daraufhin wurden sie für den Rest des Jahrzehnts für fast alle Jerry Lee Lewis-Sessions verpflichtet. Sie lieferten den lockeren Rahmen, in dem sich die einzigartige Genialität von Lewis voll entfalten konnte. Aufmerksamen Zuhörern blieb nicht verborgen, dass es ein und derselbe Gitarrist war, der auf fast allen frühen Aufnahmen von Jerry Lee Lewis zu hören war. Als Jerry bei Hand Me Down My Walking Cane “Roland, boy!” ausruft, wird manchen erstmals klar, um wen es sich handeln könnte. Ein paar Jahre später fanden wir einige der Original-Sessionverträge mit seinem Namen. Wir stellten fest, dass er Put Me Down auf Jerrys erster LP geschrieben hatte. Plötzlich passten die Einzelteile zusammen.
1957 beendete Roland die Zusammenarbeit mit Riley und ging mit Lewis auf Tour. Er und Jerry wohnten zusammen in einem Zimmer. Roland bestand allerdings darauf, dass Jerrys Bassist und Schwiegervater, J.W. Brown und der Tour-Schlagzeuger, Russ Smith diejenigen war, die ständig irgendwelche Läden aufmischten. Nach ein paar Monaten verkrachte er sich mit Lewis. Es folgte eine kurze Zusammenarbeit mit Bill Justis auf den Wogen des Erfolgs, der mit Raunchy began und endete. Schließlich kehrte er zu Jerry Lee kurz vor dessen vom Unglück verfolgter England-Tournee im Mai 1958 zurück. Sie arbeiteten bis 1959 zusammen. Danach kehrte er in Rileys Gruppe zurück. Mittlerweile hatte er geheiratet und stellte sich die Frage, ob er den Rest seiner Tage auf Tour verbringen wollte und für oft weniger als vierzig Dollars auf Sessions mitwirken wollte, die Platten hervorbrachten, die sich millionenfach verkauften. Er und Riley beschlossen, Große Tiere zu werden.
„Als Sam [Phillips] sein neues Studio auf der Madison Avenue eröffnete“, sagt Roland, „da gingen Bill und ich zu Sam und fragten ihn, ob er uns das alte Studio überlassen würde. Wir wollten dort aufnehmen. Die Produkte sollten auf Sun veröffentlicht werden. Die Frage wurde jedoch nie abschließend geklärt, und so machten wir irgendwann unser eigenes Ding. Rita Records nannten wir das Ergebnis unserer Zusammenarbeit. Bill und ich spielten überall mit. So sparten wir uns viele Honorare für andere Musiker, und wir arbeiteten mit unseren alten Freunden Martin Willis und J.M. Van Eaton. Wir konnten Ira Lyn Vaughan als Partner gewinnen, denn er besaß ein wenig Geld. Er war Buchhalter. Das Label wurde nach seiner Tochter benannt. Mr. Vaughan übernahm den gesamten Papierkram, und Bill und ich kümmerten uns um die Produktionen und darum, die Platten an die Vertriebe zu liefern. Riley war ein wesentlich besserer Verkäufer als ich, doch ich besaß offensichtlich ein besseres Gespür für gute Geschäfte.“
Rita Records wurde im September 1959 gegründet. Roland Janes und Billy Riley brachten ihre eigenen Platten heraus und dazu Singles von J.M. Van Eaton und Marty Willis. 1960 gelang dem Label der erste und einzige Hit mit Mountain of Love von Harold Duncan. Die Aufnahme kletterte in den Hot 100 hoch bis auf Position Nr. 21. Kurz darauf, bald nach Veröffentlichung des Nachfolgers Moved To Kansas City, brach das Label zusammen. Roland musste für eine Weile untertauchen und zurück nach St. Louis. Nach seiner Rückkehr nach Memphis gründete er auf der Madison Avenue Sonic Sound. Seine Vorstellungen von Produktionen basierte auf dem, was er von Sam Phillips gelernt hatte. „Sam riet mir, mich nicht zurückzuhalten. Mach’s einfach und genieße es. Halte Dich nicht mit kleinen Fehlern auf. Wenn das Feeling stimmt, dann wird man es auf dem Band auch hören.“
Sonic veröffentlichte drei Hits: I’m Movin’ On von Matt Lucas, das an Smash/Mercury lizenziert wurde, Scratchy von Travis Wammack, das auf Rolands ARA Label veröffentlicht und von Atlantic vertrieben wurde sowie Jerry Jayes wunderbares My Girl Josephine im Retrostil auf Hi, der wahrscheinlich letzte Hit, der für weniger als zwanzig Dollar produziert wurde. „Roland gab mir sogar die Schlüssel zum Studio, damit ich dort üben konnte“, sagt Wammack. „Er gab mir eine Chance. Ich konnte es kaum glauben, war er doch der beste Gitarrist weit und breit.“ „Travis war so gut,“ sagt Roland. „Er wurde ungeduldig mit den anderen Musikern. Er spielte seinen eigenen Part und den der anderen dazu. Manchmal klang er wie eine Leadgitarre, eine Rhythmusgitarre und ein Bläsersatz – und das gleichzeitig. Ich sagt immer wieder, er solle ’runterkommen oder ich würde meine Gitarre holen und ihn an die Wand spielen.“
Sonic wurde während einer Übergangsphase der Musik in Memphis betrieben. „Wir alle kamen vom Rockabilly und fanden uns plötzlich inmitten von kräftigeren Beats und höheren musikalischen Ansprüchen wieder“, sagt Roland. „Die Musik, die wir aufnahmen, war im Umbruch. Sie enthielt ein wenig Rockabilly, ein bisschen Soul, und so weiter.“ Für lästige Kunden gab es an seinem Mischpult einen Regler mit der Bezeichnung  „Alles aussteuern“. Während er sich um das Band kümmerte bat er die Kunden, die richtige Einstellung zu finden. Sie spielten damit herum, bis sie zufrieden waren und bekamen nicht mit, dass dieser Regler überhaupt nicht verdrahtet war.
Sonic musste 1974 aufgeben. Nachdem er sich für ein paar Jahre aus dem Musikgeschäft zurückgezogen hatte, fing Roland als Toningenieur bei Sounds of Memphis und 1982 beim Phillips Studio an. Zwischenzeitlich arbeitete er als Dozent für Aufnahmetechniken an einer überwiegend von Schwarzen besuchten Gesangsschule in Memphis. In den Phillips Studios nahm er das Elektra-Album von Charlie Feathers, das letzte Album von Charlie Rich für Sire und eine Unmenge anderer Sessions auf: Soul, Blues, Rock, Grunge, Indie, Retro und sogar Rap. Einige Musiker, darunter auch Bob Dylan, kamen nur wegen Roland Janes zu Phillips Recording. Sie wollten, dass er die Aufnahmen machte und sein Urteil abgab.
Ich sah Roland zum letzten Mal im August im Studio, als er an einigen  1970von Knox Phillips produzierten Bändern mit Aufnahmen von Jerry Lee Lewis arbeitete. Ich versprach, zu seiner Aufnahme in die Memphis Music Hall of Fame am 5. November zu kommen. Roland war seit Jahren übergewichtig und litt unter Kniebeschwerden, doch er hatte sich die Haare gefärbt und ein neues Brillengestell gegönnt. Im September erlitt er einen Herzinfarkt. Seitdem ging es langsam bergab mit ihm. Am 3. Oktober kam er ins Krankenhaus. Am 17. Oktober rief Knox Phillips an teilte mir mit, dass Betty Janes und die Kinder entschieden hatten, alle lebensverlängerten Maßnahmen zu beenden, nachdem eine Computertomografie ernsthafte Gehirnschäden als Folgen eines Schlaganfalls erkennen ließ. Roland starb am nächsten Tag, wenige Monate nach seinem achtzigsten Geburtstag. Seine Familie war bei ihm und J.M. Van Eaton, der beim Krankenhaus vorbeigeschaut hatte und somit den Moment seines Todes miterlebte.
Die Beerdigung fand am 22. Oktober statt. Eine Diashow zeigte Roland und verschiedene Stationen seines Leben und seiner Karriere. Eins der Bilder zeigte Guitarville, seine auf Bear Family veröffentlichter LP – das einzige Album, das je unter Roland Janes’ eigenem Namen veröffentlicht wurde.
übersetzt von Detlev Hoegen
 
 

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