Presse - Woody Guthrie - The Tribute Concerts - Märkisches Medienhaus

„Noch bin ich nicht tot” 

Amerikas berühmter Folksänger, Woody Gutbrie, starb vor 50 Jahren an einer unheilbaren Nervenkrankheit. Dass es heute Hoffnung gibt, hat auch mit seinen Liedern zu tun

Von Ina Matthes 

Die Karten sind nach nur einer Stunde ausverkauft. Vor der New Yorker Carnegie Hall drängen sich Menschen. Junge Leute mit Schildern: „Verkaufe mir bitte zwei Karten." Drinnen auf der Bühne spielen Stars der FolkSzene: Pete Seeger, Bob Dylan, Judy Collins, Tom Paxton. Es ist ein Abschied für Woody Guthrie, den FolkBarden Amerikas. Sie wollen nicht trauern, sie wollen ihn feiern. Guthrie ist drei Monate zuvor gestorben, am 3. Oktober 1967. Jetzt spielen sein Sohn Arlo und seine Freunde seine Songs wie „This Land Is Your Land". Sie lesen aus seinen Aufzeichnungen. Texte über Okemah, wo Woodrow Wilson Guthrie 1912 geboren wird. Eine Kleinstadt in Oklahoma, die einen Ölboom erlebt und dann im Elend versinkt. Geschichten vom „wilden Alten", der keine Noten lesen kann, aber Woody erste Griffe auf der Gitarre beibringt. Und von der Mutter Nora Belle, die Hunderte von Liedern in ihrem Kopf gespeichert hat und gerne am Klavier singt. Von ihr hat Woody Guthrie die unheilbare Krankheit geerbt, an der er stirbt: Chorea Huntington. Guthrie ist ihr wohl prominentestes Opfer. Seine Mutter kommt in eine Nervenheilanstalt, nachdem sie versucht haben soll, den schlafenden Vater anzuzünden. 

 

Es ist einer von mehreren Schicksalsschlägen, der die Familie zerstört. Die 14jährige Schwester Clara stirbt bei einem Feuer. Vater Charley, ein Landspekulant, Cowboy und Lokalpolitiker, scheitert. Mit 16 geht Woody aus Oklahoma fort. Ein unstetes, aber äußerst produktives Leben beginnt. Er zieht mit den Okies, heimatlosen Landarbeitern, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und mit seiner Gitarre. Auf der Straße findet Guthrie den Stoff für seine Lieder. „Das Beste, worüber du singen kannst, das ist, was du siehst. Und wenn du genau hinschaust, findest du viel, worüber du singen kannst." Mehr als 3000 Songs entstehen. Radioauftritte in Los Angeles bringen ihm den Durchbruch. Er ist nicht nur ein sozialkritischer Sänger und Poet, er zeichnet gut, verfasst Texte für eine kommunistische Zeitung, schreibt Bücher. Er heiratet drei Mal, zieht immer wieder um, bekommt acht Kinder. Guthrie wird Platten, aber nicht DollarMillionär. Doch Ende der 1940erJahre verändert er sich. „Woody war nicht mehr derselbe", zitiert Biografin Barbara Mürdter den Freund Pete Seeger. „Er schrieb keine großartigen Songs mehr, einen nach dem anderen." Er scheint zu viel zu trinken, wirkt in Gesprächen abwesend. Guthrie kann sich schlecht konzentrieren, leidet unter Schwindelanfällen. Er schreibt in Briefen unzusammenhängendes Zeug  und kann sich später nicht daran erinnern. Die Ehe mit seiner zweiten Frau Marjorie Mazia, mit der er vier Kinder hat, geht in die Brüche. 

 

Seine berufliche Situation ist schwierig. Als Linker ist der Liedermacher in der McCarthyÄra nicht gelitten, kann kaum noch im Radio auftreten. Er wird in Kliniken wegen Alkoholismus behandelt, dann wegen Schizophrenie. Ohne Erfolg. An Chorea Huntington denkt niemand. Die Krankheit, 1872 entdeckt, ist kaum bekannt. In betroffenen Familien wird aus Scham oft darüber geschwiegen, selbst im engsten Familienkreis. Guthrie wird immer unberechenbarer für seine Umgebung. 1952, bei einem Ehekrach, schlägt er seine Frau Marjorie. Wieder kommt er in ein Krankenhaus. Dieses Mal stellen die Ärzte die richtige Diagnose. Chorea Huntington. Fehldiagnosen sind bei diesem Leiden nichts Ungewöhnliches, weiß der Psychiater Matthias Dose. Der Professor ist einer der renommiertesten Experten, hat lange Zeit ein Huntington-Zentrum in Bayern geleitet und ist Mitbegründer einer der ersten Selbsthilfegruppen. Sein erster HuntingtonPatient war in den 80erJahren ein 19jähriger Mann, der wegen einer Angststörung behandelt wurde. „Heute wissen wir, dass mit einem Vorlauf von zehn Jahren und mehr zunächst psychische Veränderungen auftreten." Das kann vieles sein, Depressionen, Ängste, Schizophrenie. 

 

Die typischen Bewegungsstörungen, die der Krankheit auch den Namen Veitstanz eintrugen, stellen sich häufig später ein. Dem Kranken entgleitet die Kontrolle über seine Muskeln, das Gesicht verzieht sich zur Grimasse, unwillkürliche Bewegungsstürme erschüttern den Körper. Sie könnten nichts für ihn tun, sagen die Ärzte, als sie Guthrie die Diagnose mitteilen. 13 Jahre, bis zu seinem Tod, bringt der Sänger in psychiatrischen Kliniken zu. Er kann nicht mehr Gitarre spielen, später nicht mehr sprechen. Doch seine zweite Frau Marjorie hält zu ihm, obwohl beide bereits geschieden sind. Sie besucht ihn mit den Kindern. Guthries Tochter Nora, die vier ist, als ihr Vater ins Krankenhaus muss, hat keine guten Erinnerungen an die Kliniken. „Wenn mein Vater aß, ließ er die Hälfte fallen, denn er konnte seine Finger nicht kontrollieren. Die Essensreste blieben tagelang auf seiner Kleidung. Es gab niemanden, der ihn fütterte." Guthrie verfällt körperlich und geistig. „Wir können die Symptome lindern, aber das Fortschreiten der Krankheit nicht aufhalten", sagt Matthias Dose. Heute gibt es mehr Medikamente, bessere Pflege, Selbsthilfegruppen, Familien müssen sich nicht mehr verstecken. Dass die Krankheit heute bekannter ist, das daran geforscht wird, ist auch ein Verdienst der Guthrie-Familie. Marjorie Guthrie gründet ein Jahr nach dem Tod ihres ExMannes eine Organisation zur Bekämpfung von Huntington. 

 

Sie hat Angst, dass ihre Kinder die Krankheit bekommen könnten. Das Risiko liegt bei 50 Prozent. Noch immer ist Chorea Huntington unheilbar. Aber jetzt gibt es echte Hoffnung. 1993 wurde die Ursache der Krankheit entdeckt: ein Defekt in einem Gen. Er führt dazu, dass ein fehlerhaftes Eiweiß gebildet wird, dass Zellen im Hirn zum Absterben bringt. Durch einen Test kann nun geklärt werden, ob jemand die Krankheit hat  oder bekommen könnte. Bei den meisten bricht sie zwischen 35 und 50 Jahren aus. Vor allem junge Leute mit Kinderwunsch wollen Gewissheit, sagt Matthias Dose. Zwei von Guthries Töchtern aus erster Ehe sterben an Huntington. Seine jüngeren Kinder, Tochter Nora und Sohn Arlo, haben sich nicht testen lassen. „Leben ist kostbar, egal wie lang es ist", sagt Arlo Guthrie. „Leben ist Leben. Du sollst es lieben." Für die Medizin bedeutet die Entdeckung des defekten Gens einen riesigen Fortschritt. Zwei aussichtsreiche Medikamente werden gerade entwickelt. Sie hemmen die Bildung des falschen Eiweißes. Ob sie für Menschen verträglich sind, ist noch nicht geklärt. Aber, wie Dose formuliert: „Es gibt Anlass zu einem gewissen Optimismus." Auch weil die Pharmaindustrie mittlerweile investiert. Sie erhofft sich von Erfolgen bei Chorea Huntington Therapien für zwei ähnliche, aber viel bekanntere Krankheiten: Alzheimer und Parkinson. 

 

Dass es diesen Fortschritt gibt, hat mit dem Namen Guthrie zu tun. Stiftungen wie die der 1983 gestorbenen Marjorie werben Millionen an Spenden ein. Wenn jetzt, zum 50. Todestag von Guthrie, die „Tribute Concerte" aus der Carnegie Hall 1968 und ein weiteres Konzert von 1970 neu veröffentlicht werden, dann geht es auch um den Kampf gegen diese Krankheit. Und um die Erinnerung an einen Künstler, dessen Lieder lebendig geblieben sind. Als Guthrie in der Klinik dahinsiecht, besucht ihn ein 19Jähriger, spielt ihm auf der Gitarre vor Bob Dylan. Guthrie mag aus der Öffentlichkeit verschwunden sein, aber Pete Seeger, Joan Baez und viele andere singen seine Lieder. Bis heute. Bruce Springsteen gehört dazu. Der Liedermacher Hans Eckardt Wenzel. Auch Guthries schöne Kinderlieder werden gesungen von Gerhard Schöne zum Beispiel. Guthrie selbst hat auf sich auf seine Art mit Huntington auseinandergesetzt. So lange er konnte. Er schrieb Lieder: „Diese Welt schlägt mir ins Gesicht / sie drischt mir auf den Schädel / sie prügelt mich schwarz und blau und grün / Aber  noch bin ich nicht tot." 

„Woody Guthrie  The Tribute Concerts", 3 CDs und 2 Bücher, Bear Family Records; www.bear-family.de

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